Die Kultur gehört wohl zu den am meisten gebeutelten Bereichen der Covid-19-Pandemie. Seit Herbst 2020 stehen Konzerthäuser, Kinos und Theater in Südtirol leer. Auch hier mussten die Protagonistinnen und Protagonisten Wege und Mittel finden, um sich "neu zu erfinden", am besten im Zuge von Digitalisierungsprozessen. Besonders gut gelungen ist das dem kleinen Theater "Carambolage" in der Bozner Innenstadt. Geschäftsführer Martin Bampi erzählt uns, wie man im Kleinen das Theater für sich neu erfunden hat, welche unverhofften Möglichkeiten sich dabei ergeben haben und wie sich Theater und Schauspiel in Zukunft verändern könnten.
Kreatif: Die Carambolage hat aufgrund der Umstände, die der Notstand rund um Covid-19 hervorgebracht hat, ein erfolgreiches Konzept zur Überbrückung der Pandemie gelauncht. Theater über virtuell, teilweise über Videokonferenz. Wie ist das entstanden?
Martin Bampi: Angefangen hat ja alles im März 2020 mit diesem plötzlichen Stillstand. Wir waren ein wenig verzweifelt. Keine Theateraufführungen waren eine Katastrophe, wir befanden uns in Schockstarre. Wir haben hin und her gedacht und irgendwann ist uns das Ensemble für das Improtheater Carambolage eingefallen. Es kam uns sogleich die Idee, mit diesen Schauspielerinnen und Schauspielern den Sprung ins Netz zu wagen. Folglich haben wir Impro-Vorstellungen über Zoom organisiert, sodass die Akteure von zu Hause aus Theater spielen konnten. Wir haben die Vorstellungen dann über Facebook und YouTube ausgestrahlt und siehe da: Es haben sich 630 Geräte zugeschaltet, um das Programm zu verfolgen. Es dürften um einiges mehr Zuschauer gewesen sein, zumal über 900 Kommentare über die Plattformen bei uns abgegeben wurden.
Konnte man den Aufführungen kostenlos beiwohnen oder hatte man eine Einnahmequelle?
Wir haben einen digitalen Spendentopf eröffnet. Das hat hervorragend funktioniert: Als Einnahmen konnten wir ein durchschnittliches Abendinkasso verbuchen. Uns ging ein Licht auf: Die Alternativen sind da, wir müssen sie nur zu nutzen wissen. Wir konnten unserer Kreativität freien Lauf lassen. Also folgte auf die erste Vorstellung im April sogleich eine zweite im Mai. Wir haben Erfahrungswerte gesammelt, gute Ideen beibehalten, schlechtere aussortiert. Nichtsdestotrotz hat uns der direkte Kontakt mit dem Publikum gefehlt. Und das ist die Essenz einer jeden Theateraufführung, die Interaktion mit den anwesenden Zuschauern. Theater ist nämlich eine analoge Kunstgattung, die von der physischen Co-Präsenz der Zuschauer lebt.
Konnte die Gewissheit, dass mehrere Menschen über Stream zugeschaltet waren, dieses Gefühl nicht ein wenig simulieren?
YouTube- und Facebook-Stream schön und gut, aber es kommt nicht ans Original heran. Es fehlte die Teilhabe des Publikums, die unmittelbare Gestik und Mimik der Zuschauerinnen und Zuschauer. Daher haben wir unser Gedankenspiel weitergesponnen und uns gefragt: Gibt es noch weitere Optionen?
Und die gab es …
Genau: Parallel dazu haben im Frühjahr 2020 die Proben für eine Eigenproduktion – dem Theaterstück „Die Niere“ – begonnen. Wir wollten die Proben virtuell durchführen, haben aber bald gemerkt, dass das nicht funktioniert. Es fehlte einfach das direkte Miteinander. Daher haben wir uns überlegt, wir könnten gerade diese unkonventionellen Proben überspitzt inszenieren und ein bisschen auf die Schippe nehmen, um es anschließend als eigenständige Produktion ins Netz zu stellen. Das hat ganz gut funktioniert, über 500 Menschen haben sich unser Experiment angesehen. Darunter war auch der Obmann der Rittner Sommerspiele, Andreas Baumgartner. Zufällig waren die Rittner gerade auf der Suche nach einem klein besetzten Theaterstück für die Freilichtspiele Ritten.
Es tüncht einem schon nach der Ironie des Schicksals, dass eine virtuelle Verballhornung der aktuellen Situation zu einer Freilichtaufführung vor Publikum geführt hat, die vielleicht anders gar nicht entstanden wäre.
Ja, unterm Strich hat uns in diesem Fall das Internet zusammengeführt. Es konnten doch nur Stücke im Freien aufgeführt werden, wir haben genau so eine Lösung gesucht und so hat es sich ergeben, dass wir ins Programm aufgenommen wurden. Eine Win-Win-Situation: Die Freilichtspiele hatten ihr Theaterstück und wir endlich wieder eine Bühne – daraus ist eine wunderbare Co-Produktion entstanden. Hätten wir diesen Schritt ins Netz nicht gewagt und uns darauf verständigt, dieses neue Format auszuprobieren, wäre es wohl auch nicht zu diesem Projekt gekommen. Es war ja für so ein kleines Theater wie die Carambolage fast undenkbar, einmal bei Freilichtspielen mitzumachen. Da hatten wir Glück.
Auf dieses großartige, aber doch kurze Hoch folgte aber die herbstliche Tristesse.
Im Oktober 2020 stand die Theatersaison wieder in den Startlöchern. Wir waren mit einer Eigenproduktion am Start: „Drosseln (Swallow)“. Auch hier haben wir uns auf unbekanntes Terrain begeben: Es war eine ganz neue Erfahrung, Theater unter Einhaltung der AHA-Regeln (Abstand halten, Hygieneregeln beachten und im Alltag Maske tragen) und der Hygienevorschriften zu proben. Wir mussten darüber nachdenken, wie wir proben könnten, ohne dass die Schauspieler aufeinander zugehen müssen. Bei dieser Herausforderung hat uns das Stück selbst geholfen, es war ideal für dieses Szenario: Es geht dabei um Hausbewohner, die sich alle in verschiedenen Räumen aufhalten und nie zu Gesicht bekommen – sie hören sich nur gegenseitig durch die Wände. Als ob es für eine Pandemie geschrieben wurde. Es hat großartig funktioniert, die Akteure waren die ganze Zeit räumlich voneinander getrennt. Aber Ende Oktober, Anfang November war der Spaß auch schon wieder vorbei, als es zum nächsten Lockdown gekommen ist. Es durften keine Veranstaltungen mehr abgehalten werden, Proben waren nur möglich, wenn es sich bei Schauspielerinnen und Crew um Profis handelte. Wir haben weiterhin fleißig geprobt, aber unweigerlich kam irgendwann die Frage auf: Warum proben, wenn man sowieso nichts aufführen darf?
Das muss schon frustrierend sein, wenn man gerade von der Dynamik, die ein Publikum fördert, lebt. Wie habt ihr auf den erneuten Lockdown reagiert?
Wir sind wieder auf die Suche nach alternativen Lösungen gegangen und haben uns überlegt, ob wir nicht ein Stück produzieren könnten, das man im Internet aufführen kann. Wir wollten dabei auch das Publikum miteinbeziehen. Aus diesem Gedankengang ist schließlich die Theaterproduktion „Superspreader“ hervorgegangen.
Hat man bei der Konzeption des Stücks – außer inhaltlich – die Lockdown-Situation miteinfließen lassen?
Das Stück ist erst voriges Jahr entstanden und folglich Pandemie-maßgeschneidert für das Zoom-Format geschrieben worden. Wir haben uns außerdem bewusst dafür entschieden, die Zuschaueranzahl zu begrenzen, es konnten sich maximal 25 Geräte zuschalten. Wir wollten nämlich nicht, dass sich die Zuschauer verlieren. Wir wollten die Anonymität des Internets überwinden. Denn auf YouTube oder Facebook linkt man sich einfach ein, ohne dass man wirklich wahrgenommen wird. Wir haben die Zuschauerinnen dazu aufgefordert, Kamera und Mikrofon eingeschaltet zu lassen, damit der Schauspieler immer das Gefühl hat, wie im realen Theater vor Publikum zu spielen. Der Schauspieler Peter Schorn hat die „Anwesenden“ während des Stücks miteinbezogen, sie teilweise namentlich angesprochen – es gab eine ständige Interaktion. Die Vorführung hat circa eine Stunde gedauert und im Anschluss konnte das Publikum eine knappe Stunde Fragen stellen.
Wie haben die Zuschauerinnen und Zuschauer auf diese intermodale Lösung reagiert? Immerhin hat man in einem Jahr Corona mehr als genug auf Bildschirme „geglotzt“.
Die Menschen waren begeistert und haben angemerkt, endlich wieder das Gefühl gehabt zu haben, Teil eines richtigen Kulturabends gewesen zu sein. Es kam das Gefühl auf, endlich wieder etwas mit anderen geteilt zu haben, anstatt einsam und anonym vor einem Bildschirm zu verharren und sich berieseln zu lassen. Dieses Format hat dem Virtuellen ein bisschen Leben eingehaucht und das Gefühl eines richtigen Theaterabends aufkommen lassen, wenn auch in 2-D anstatt 3-, 4- oder gar 5-D.
Im Grunde habt ihr sogar geschafft, diese vierte Wand, die der Bildschirm bildet, zu durchbrechen. Nun konnten größere Produktionsstätten wie das Waltherhaus eher nicht auf solche Formate zurückgreifen, da hat man es als kleines Theater, wie es die Carambolage ist, wahrscheinlich ein wenig leichter. Andererseits hatten größere Theater eher die Mittel, diesen Stillstand zu überbrücken. Hatte man bei der Carambolage jemals Existenzängste?
Wir als Theater und Kulturverein eigentlich nicht. Die öffentlichen Beiträge, die wir erhalten, wurden uns auch während dieser Zeit zugesichert. Bei den Schauspielern und Musikerinnen war es jedoch etwas anders. Wir konnten sie ja nicht mehr engagieren, daher sind viele in Existenznöte geraten. Es ist tatsächlich eine sehr prekäre Situation. Nun sind zwar Beiträge für einzelne Kulturschaffende zur Verfügung gestellt worden, um Abhilfe zu leisten, aber nichtsdestotrotz waren die Akteure für fast ein ganzes Jahr kaltgestellt.
Wie haben die Schauspielerinnen auf diese neuen, digitalen Formate reagiert? Sieht man es als weitere Option für die Zukunft oder nur als notgedrungene Lösung für diese Zeit?
Ich denke, dass die Meinungen auseinandergehen. Einige sehen das konservativ: Theater ist analog und soll vor Publikum aufgeführt werden. Besonders die jüngere Generation sieht diese Formate aber als neuen Erlebnisraum. Und ich glaube schon, dass diese Zwangsvirtualisierung dazu beigetragen hat, dass die Branche eine Veränderung vollzogen hat. Außerdem erscheint es mir wichtig, die Erfahrungswerte, die man in den letzten Monaten gesammelt hat, auch zukünftig miteinfließen zu lassen. Nun, da der Corona-Pass eingeführt wurde, dürfen wir wieder Theater spielen und es funktioniert den Umständen entsprechend. Trotzdem gibt es nach wie vor Menschen, die sich noch nicht sicher genug fühlen, größere Menschenmengen meiden und Kultur lieber von der Couch zu Hause konsumieren. Daher kommen wir nicht umher, ein wenig umzudenken, zumal wir nicht wissen, wie lange der aktuelle Zustand anhalten wird.
Also werden diese Formate nicht mit Covid-19 verschwinden?
Sollten Maske und Corona-Pass auch in der nächsten Saison noch aktuell sein, dann macht es schon Sinn, die beiden Erlebnisräume – virtuell und analog – miteinander zu kombinieren. Also so viele Zuschauer vor Ort zulassen wie möglich und den Rest über Stream zuschalten. Es klingt vielleicht ein wenig wie Zukunftsmusik, aber ich könnte mir eine hybride Theaterform gut vorstellen.